Ⅶ : Die Hallen der Zeit │ 1 · Begrüßungsdivergenzen


»Kali, liebstes Kind? Wenn du mit der Inventur der Lyrikabteilung fertig bist, bereitest du deinem alten Herrn dann bitte einen Pfefferminztee? Aber denk an die Zeit! Du könntest deinem alten Herrn allerdings noch einen Pfefferminztee bereiten, wenn du mit der Inventur der Lyrikabteilung fertig bist. ... Kali?«, hallte die etwas fistelige Stimme eines alten Mannes weich über die drei hohen Bücherstapel auf dem monströsen Mahagonischreibtisch und durch das riesige Atrium der Bibliothek.

»Bin schon fer-tiiig. Ganz im Zeit-plaaan. Tee kommt sofo-ooort«, erklang die glockenhelle, fast gesungene Antwort von irgendwo zwischen den unzähligen, halbleeren Bücherregal-Reihen.

Eine dritte, tiefere und hörbar lallende Männerstimme, äffte sie in ihrem Singsang nach: »U-hund mi-iiir noch ein Bi-iiier.« Sie kam von der einzig gerade sichtbaren Gestalt, die breitbeinig und weit zurückgelehnt in einem der gemütlichen alten Ledersessel der holzgetäfelten Vorhalle saß. Ein Typ, scheinbar in bestem Mannesalter, mit langen, grauweißen Dreadlocks, die das kantige Drei- ... eher Sieben-Tage-Bart-Gesicht einrahmten und ihn älter aussehen ließen, als er es vermutlich war. Mit seinem bodenlangen, fleckig beigen – wohl einst weißen – Staubmantel sah er in so einem Etablissement ziemlich fehl am Platze aus. Er würde eher ins Bild einer verruchten Hafenkneipe passen.
Die leere Bierflasche, die er jetzt als Mikrofonersatz benutzte, während er krächzend Bob Marleys Song: „No Woman, No Cry" anstimmte, rundete diesen Eindruck noch entscheidend ab.
»'Cause i remember ... when we used to sit ...«

Das »Meine Güte! Du bekommst jetzt erstmal einen doppelten Espresso!« von der hörbar entnervten jungen Dame aus der kleinen Mitarbeiterküche ließ ihn seinen theatralischen Gesangkünsten nur noch eine Portion Lautstärke hinzufügen. Der alte Mann hinter der improvisierten Bücher-Schallschutzmauer schnaubte nur resignierend.
So ging das nun schon die ganze Nacht.

Nach wenigen Minuten erschien Kali aus der Küche. Ein glänzendes Silbertablett in den Händen, auf dem sie zwei Tassen mit dampfenden Heißgetränken balancierte. Übervorsichtig schlurften ihre neonpinken Ballerinas über den spiegelglatt polierten Parkettboden. Die zitternden Gedanken, ihre heiße Fracht nicht zu verschütten, wurden durch das vibrierende Geräusch von Porzellan auf Porzellan hörbar.
Bei dem gerade pausierenden Gesangskünstler angekommen, seufzte sie erleichtert und stellte ihm einen – mindestens fünffachen – Espresso auf den kleinen Beistelltisch. »Den kannst du jetzt gebrauchen! Und hör bitte auf mit deinen selbstmitleidigen Gefühlsausbrüchen. Meine armen Öhrchen. Wenn du schon mit uns mitkommen willst, dann könntest du dich ruhig etwas nützlich machen und mir ein wenig zur Hand gehen, du bemitleidenswertes Tränchen du.« Sie grinste und wuschelte ihm mit ihren kunterbunt lackierten Fingernägeln durch seine dunkelweiße Haarpracht.

»Mah! Du has ja keine Aaahnung ... wies is, wemman seine wahre Liiiebe vermissen tut, hicks«, artikulierte er sich auf alkoholisch. »Isch bin gradd voll emo... emuschi... mozinal – im Arsch! O-oder?«

»Ich hab leider grad keine Zeit für sowas, Schnapsi«, beantwortete sie seine eminent wichtige Frage. Sie verdrehte die Augen und wollte sich auf den rutschigen Weg machen, dem alten Herrn seinen Tee zu servieren.
Die Hand, die ihr auf den Hintern klappste, hätte sie noch wohlwollend ignoriert, aber die Anhänger seines goldenen Bettelarmbands, die sich dabei in ihrem weißen Spitzenkleid verfingen, hinderten sie abrupt am Davonkommen. Die Tasse rutschte gefährlich nah an den Rand des Silbertabletts.

»Wo wir schwei Hübschn grad bei ›zu Hand gehn‹ un ›Arsch‹ waren ... meinste nich, duuu könnst mich auch mal ... ein bichchen trösten?«

»Hör mal, ich mag dich ja ... Wenn du nicht so ein kleiner Weichkeks geworden wärst und mich ein wenig liebevoller umgarnen würdest, hättest du vielleicht sogar eine Chance«, warf sie ihm genervt aber ehrlich über die Schulter zurück, während sie mit der freien Hand geschickt Kleid und Armband entwirrte. »Grade du müsstest doch Meister dieses Fachs sein. Und überhaupt ... wer schmachtet denn fast zwanzig Jahre lang in Liebeskummer?« Kopfschüttelnd schlitterte sie eilig davon.

»Du hass trossdem nen tollen Aaaaarsch!«, grölte er ihr noch hochachtungsvoll hinterher. Dann starrte er mit genüsslich breitem Grinsen ihrem wohlgeformten Allerwertesten nach.

Am Schreibtisch angekommen, stellte sie das Tablett auf einem der Büchertürme ab und schob die anderen beiden auseinander. Dazwischen drapierte sie die Tasse. »Der Minztee ist angerichtet.«

Chronos war darin vertieft, mit einer großen Feder schwungvoll etwas auf einem Stück Pergament zu verfassen und schien auch ihr lautes Räuspern nicht wahrgenommen zu haben.

»Alter-chen? ­– Ich hab auch diiie hiiier ...«, säuselte sie ihm lieblich zu, während sie mit der kleinen Plastikbox voller weißer Pillchen rasselte – fast als wolle sie einen alten Hund zum Ballspielen animieren.

Die Adlerfeder senkte sich und er blickte sie, wie aus einer fernen Welt gerissen, verwirrt an. »Hach, Teuerste, du bist es. Ich dachte schon, du hättest mich vergessen ...« Er hob sich, leicht tattrig, die Tasse zum Mund und pustete seiner reizenden Assistentin durch seinen weißen Rauschebart den Pfefferminzduft entgegen. »War noch etwas?« Die buschigen, bartfarbenen Augenbrauen erhoben sich fragend.
Kali schüttelte erneut die durchsichtige Schachtel und hielt sie ihm jetzt amüsiert, weit über den Tisch gelehnt, eine Handbreit vor die Nase.
Er stellte klappernd seinen Tee beiseite, rückte sich seine goldene Nickelbrille zurecht und inspizierte das Döschen. Dann stiegen ihm die Federwolken über den Augen verzückt noch etwas höher empor. »Das ist aber herzallerliebst, meine Gute. Ich dachte bereits, wir hätten keine mehr vorrätig«, freute sich der alte Chronos über ihre immerwährende Aufmerksamkeit. »Stell sie doch bitte einfach auf den Tisch.«

»Kann ich sonst noch was für dich tun, Opa?« Ungeduldig wippte sie auf den Zehen auf und ab.

»Ja, Kindchen. Gewiss doch. Du könntest mir viel Zeit sparen, indem du mich nicht immer alles mehrmals sagen lässt. Zieh dir bitte etwas anderes als dieses kurze Kleidchen da an! Wir erwarten in Kürze Gäste. Also zieh dir bitte etwas anderes an als dieses kurze Kleidchen da. Wenn du mich nicht immer alles mehrmals sagen ließest, könntest du mir viel Zeit sparen, Kindchen. Ganz gewiss.«

»Aber O-piii. Das trägt man heute so«, rollte sie mit den Augen. »Wer kommt denn noch so kurz vor Abflug?«

»Nur ein unbedeutender Schreiberling, in Begleitung einer Vergangenheit. Sie ist eine alte Bekannte von mir. Und wo es mir gerade in den Sinn kommt, wohl auch von unserem bezechten Troubadour dahinten. Allerdings wird er wohl weniger gut auf sie zu sprechen sein. In diesem Zustand würde die Situation wohl ziemlich unbehaglich ... Sie ist nämlich eine alte Bekannte von uns beiden, musst du wissen.«

Als hätte er vom Teufel gesprochen, stimmte der Besagte gerade in bester Laune seinen nächsten A-capella-Song an. Diesmal sollte AC/DC dran glauben.
»Going down, party time! ... My friends are gonna be there too ...
Bam-bam-bam-bam-bam, – musste die Stehlampengitarre herhalten – i'm on the hiiiiighway to hell ...«

»Gib ihm lieber das hier.« Chronos drückte ihr ein kleines Fläschchen mit seltsamem morastbraunen Flüssiginhalt in die Hand.

»Macht ihn das Stumm? Oder schläft er dann ein?«, wollte sie voller Vorfreude in sämtlichen Gesichtszügen wissen.

»Schön wär's, Kalilein. Es macht ihn nur nüchtern. Alles andere an Elixieren ist doch schon auf der Arc. Du könntest ihm natürlich auch ...« Der Alte deutete ihr mit einem schweren Buch in der Hand eine leichte Schlagbewegung an. Man sah die beiden einen Augenblick lang ernsthaft darüber nachsinnen.

»Verführerisch ...«, grinste der weißblonde Lockenkopf ihr zerzaustes Großväterchen an. »Aber ich denke nicht, dass ich das tun könnte. Betrunkene Männer sind doch wie schutzlose kleine Babys«, zwinkerte sie und fuhr wieder auf ihren imaginären Schlittschuhen zu der poetischen Lärmquelle.

»Hey, „Mr. Young", Schnäbelchen auf! Hier kommt was Feines. Ähm..., ein lecker Schnäpschen!«

»Was is das? Jäää-ermeisser? Ach, wasch soll's.­ Einem jeschenkten Gaul, schaut man ... schaut man ... kotzt man nich vor die Abbotheeeke!«, war seiner Weisheit Schluss, bevor er von seiner geistigen Bühne, die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt, in den Sessel hinter ihm stagedivete. Den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen, war erstmal Ruhe im Karton. – Ein lauter Synchronseufzer kommentierte die eingetretene Ruhe, still applaudierend.

»Kali-Schatz? Es ist gleich soweit. Ich habe den Schlüssel fertig. Gewähre unseren Besuchern doch bitte Einlass.«

Miss Kali zischte erneut Richtung Schreibtisch und nahm dem Alten das Stück Pergament, mit dem er ungeduldig wedelte, aus der Hand. Zisch – zurück in den Vorraum, der gar keine Eingangstür im herkömmlichen Sinne besaß. Sie schob ächzend noch zwei der sperrigen Sitzgelegenheiten beiseite und rollte den schweren Perserteppich zusammen. Das Pergament mit den Worten „LIEBE" und „NICHTS" darauf, das Chronos soeben angefertigt hatte, legte sie in Mitten des freigelegten Ornamentkreises – der Eingangstür.
»Feeer-tiiig«, rief sie quer durch die Halle. »Wie viel Zei... eieiei!« Sie kam nicht dazu, ihre Frage zu Ende zu stellen. Gerade noch rechtzeitig konnte sie mit einem beherzten Hopser dem Abgrund entgehen, in den sich der Kreis spontan verwandelte. Ein lautlos dunkelgrüner Strudel, der nach der Konsistenz von Götterspeise aussah. Nur sollte man es tunlichst unterlassen, dies durch eine Kostprobe herauszufinden. – Obwohl selbst Einstein oder Hawkins überrascht davon gewesen wären, dass auch sie das Ergebnis der Formel: Raum minus Zeit nur mit Pfefferminzgeschmack hätten beschreiben können.

Völlig ohne theatralischen Licht-Effekt, Donner-Grollen, Engels-Chören oder sonst einer überflüssigen Hollywood-Erfindung war das Portal wieder verschwunden. Genauso lautlos und unangekündigt, wie es aufgetaucht war. An seiner Stelle standen nun die beiden Ankömmlinge neben der gespannten Helferin des Hauses. Ein Teenager ganz in Schwarz, die Haare seitlich kurz geschoren, den Rest des Schopfes zu einem lässigen Pferdeschwanz gebunden. Und vor ihm, seine Arme auf ihren Schultern, ein kleines Mädchen. Lange schwarze Haare, kurzes Höschen und einen weißen Pulli mit Motiv auf der Brust. Er, in Mantel und ausgelatschten Cowboystiefeln, sie, in damenhaft geschnürten Römersandalen. Die aufgeweckte junge Empfangsdame musterte die beiden, innerlich belustigt, von Kopf bis Fuß. – »Ein seltsames Pärchen.«

Die anfängliche Stille wurde durch das Knistern und Knacken der hauseigenen Lautsprecheranlage durchbrochen:

»WELCH REISENDER WAGT ES, DIE HEILIGEN HALLEN DES ALLMÄCHTIGEN CHRONOS ZU BETRETEN?!«, donnerte die tiefe, einschüchternde Stimme von der Decke. »TRETET VOR UND OFFENBART EUER BEGEHR. ICH – BIN – CHR... chr... krhr-krch!«

Nach den seltsam kehligen Krächzlauten setzte eine ehrfürchtige Pause ein, die alle drei nichtkomatösen Anwesenden zum
Münder-offen-stehen-Lassen nutzten. Dann meldete sich die Stimme wieder. Diesmal allerdings recht greisenhaft und gebrochen heiser. »Ach lassen wir das. Mir geht's gut. Hab mich an diesem vermaledeiten Bonbon verschluckt. Zudem: ich werde auch nicht jünger, meine Lieben. Kommt einfach her.« Die Lautsprecher verstummten mit einem erneuten Knacken.

Die Drei sahen sich abwechselnd fragend in die Augen, bevor das blond gelockte Mädchen losprustete. »Es tut mir leid«, feixte sie. »Auf seine schrulligen alten Tage wird er plötzlich immer witziger.« Dann schoss den zwei Neuankömmlingen ihre ausgestreckte Hand zur Begrüßung entgegen, während sie sich verbeugte. »Hi, ich bin Kalliope. Freut mich, euch kennenzulernen und willkommen in den heiligen Hallen der Zeit.« 

Kiro war der erste, der sich aus der Desorientierung löste. Dass er dem Mädchen, das ihm da ihre Hand anbot, starr in den Ausschnitt glotzte, lag zur Abwechslung mal nicht an der Pubertät, sondern an dem funkelnd grünen Anhänger, den sie im Dekolleté trug. Er erinnerte ihn unweigerlich an seinen Traum. Allerdings wurde ihm schnell bewusst, dass sie es nicht gewesen sein kann, die dort mit ihm sprach. Die Farbe war etwas zu hell, etwas zu bläulich. – »Mint-grün. Nicht Smaragd-grün.« – Genau wie die strahlenden Augen, zu denen er seinen Blick jetzt anständig erhob. »Ich ... Ich bin Kiro.« Er nahm ihre Hand. – »Ihre zierliche, alabasterwarme Hand ...« – Er schüttelte den Kopf und vertrieb somit seine neuerdings so schmerzhaft intensiven Eindrücke. »Und das hier ist ...«

»Ich bin's. Serva!«, platzte Neko dazwischen und quetschte Kiros Hand dabei schmerzhaft fest zusammen. »Ich kannte dich schon, als du noch ein Baby warst. Aber du wirst dich bestimmt nich an mich erinnern, oder?«

»Ich dafür umso mehr, du verräterisches Miststück!«, knurrte die Stimme, die wie aus dem Nichts hinter den beiden auftauchte, mit hörbarem Zähneknirschen. Das Wort Miststück wurde dabei akustisch mit einem spannend mechanisch-metallenen Klicken geradezu doppelt unterstrichen.



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https://youtu.be/l482T0yNkeo

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